Nikolaj Kondratieff, die Langen Wellen der Konjunktur und die Dynamik des Kapitalismus

Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Roheisen- und Bleierzeugung pro Kopf der Bevölkerung in England von 1844 bis 1914 in der Form, wie sie der russische Ökonom Nikolaj Kondratieff (1892-1938) berechnet und als Indiz für die Existenz langfristiger Konjunkturzyklen, den sogenannten Langen Wellen, verwendet hat. Zur Berechnung der in Abb. 1 dargestellten Reihen hat Kondratieff zunächst den Säkulartrend mit Hilfe deterministischer Funktionen der Zeit geschätzt, die resultierenden Werte dann von der Originalreihe subtrahiert und schließlich das Ergebnis als Prozentabweichungen vom Säkulartrend ausgedrückt. Die prozentualen Abweichungen hat er zudem noch mit einem 9jährigen gleitenden Mittelwert geglättet um die kurzfristigen Konjunkturschwankungen auszuschalten. Das Ergebnis dieses Vorgehens zeigt die Abb. 1, die in dieser Form auch in seiner Publikation von 1926 enthalten ist, hier aber aus den von ihm verwendeten Reihen berechnet wurde. [...]

Nikolaj Kondratieff, die Langen Wellen der Konjunktur und die Dynamik des Kapitalismus

Von Rainer Metz

Abbildung 1

Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Roheisen- und Bleierzeugung pro Kopf der Bevölkerung in England von 1844 bis 1914 in der Form, wie sie der russische Ökonom Nikolaj Kondratieff (1892-1938) berechnet und als Indiz für die Existenz langfristiger Konjunkturzyklen, den sogenannten Langen Wellen, verwendet hat. Zur Berechnung der in Abb. 1 dargestellten Reihen hat Kondratieff zunächst den Säkulartrend mit Hilfe deterministischer Funktionen der Zeit geschätzt, die resultierenden Werte dann von der Originalreihe subtrahiert und schließlich das Ergebnis als Prozentabweichungen vom Säkulartrend ausgedrückt. Die prozentualen Abweichungen hat er zudem noch mit einem 9jährigen gleitenden Mittelwert geglättet um die kurzfristigen Konjunkturschwankungen auszuschalten. Das Ergebnis dieses Vorgehens zeigt die Abb. 1, die in dieser Form auch in seiner Publikation von 1926 enthalten ist, hier aber aus den von ihm verwendeten Reihen berechnet wurde.[1]

Das Interesse an der Wirtschaftskonjunktur war zur damaligen Zeit unter Ökonomen weit verbreitet. In den USA entstanden mit dem 1917 gegründeten Harvard University Committee of Economic Research an der Universität Cambridge und mit dem 1920 gegründeten National Bureau of Economic Research in New York die ersten Konjunkturforschungsinstitute. Auch Kondratieff, der zunächst der Oktoberrevolution kritisch gegenüber stand, dann aber mit den Sowjets zusammen arbeitete, gründete bereits 1920 in Moskau ein Institut für Konjunkturforschung, das er bis 1928 leitete. Wissenschaftlich war er stark von Tugan-Baranovsky beeinflusst, der vor allem durch seine Krisentheorie große Bekanntheit erlangte.

Neben englischen Reihen hat Kondratieff auch für die USA und Frankreich lange Zeitreihen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg analysiert und festgestellt, dass es in der historischen Entwicklung nicht nur kurzfristige Konjunkturzyklen und langfristige Wachstumstrends geben würde, sondern auch Lange Wellen von 40 bis 60 Jahren, die in ihrer Dauer weit über den Konjunkturzyklus von 8 bis 10 Jahren hinaus gehen. Nach Ansicht von Kondratieff resultieren diese Langen Wellen aus den Gesetzen der kapitalistischen Produktion, die durch eine endogen determinierte Abfolge von langfristigen Expansions- und Kontraktionsphasen gekennzeichnet sei. Dass Kondratieff mit einer solchen Behauptung, die einen immer wiederkehrenden langfristigen Aufschwung des kapitalistischen Systems postulierte, in schroffen Gegensatz zum dogmatischen Marxismus geriet, der einen unweigerlichen Zusammenbruch des Systems voraussagte, liegt auf der Hand. Kondratieff hat jedoch trotz zahlreicher Repressalien an seiner Theorie festgehalten. 1930 wurde er verhaftet. Nach acht Jahren Gefängnis wurde er zum Tode verurteilt und am 17. September 1938 hingerichtet. Erst in der Regierungszeit von Gorbatschow wurde Kondratieff in der Sowjetunion rehabilitiert.

Obwohl die konjunkturtheoretischen Arbeiten von Kondratieff damals sowohl von seinen Kollegen in der Sowjetunion, als auch im westlichen Ausland in inhaltlicher und methodologischer Hinsicht heftig kritisiert wurden, waren seine Beiträge in vielerlei Hinsicht innovativ. Kondratieff war nicht nur einer der ersten, der derart langfristige Wellenbewegungen behauptete, er war auch einer der ersten, der damit eine Gesetzmäßigkeit verband und diese zudem noch aus der bisherigen historischen Entwicklung empirisch abgeleitet hat. Außerdem ist zu betonen, dass er mit den Langen Wellen zusätzlich zum Säkulartrend und zu den Konjunkturzyklen eine völlig neue Form der Dynamik thematisiert hat. Neuartig war auch der Versuch, diese langfristige Dynamik mit Hilfe statistischer Verfahren aus historischen Zeitreihen, also aus seriellen Beobachtungen abzuleiten und theoretisch zu interpretieren. Die von Kondratieff bei der Analyse des Kapitalismus praktizierte systematische Verbindung von Geschichte, Statistik und Theorie hat auch spätere Forschungen zu diesem Thema nachhaltig geprägt, man denke z.B. an die „histoire serielle“ der französischen Annales-Schule, die mit diesem Ansatz wertvolle Beiträge zur europäischen Geschichte vor allem auch der Frühen Neuzeit geliefert hat.[2]

Die sich aus den Forschungen von Kondratieff entwickelnde Theorie Langer Wellen ist eine von zahlreichen Konzeption des Kapitalismus, die sich seit Beginn der Industrialisierung zunächst in der Ökonomie, später auch in der Soziologie und der Politikwissenschaft entwickelt haben.[3] Ganz allgemein geht es dabei um Wesen und Dynamik, Entstehung, Wirkungsweise, Entwicklungsgesetze und Triebkräfte, aber auch um die Motive der Akteure jenes Wirtschaftssystems, das wesentlich durch die Akkumulation von Kapital, durch Privateigentum an Produktionsmitteln, den Markt als zentrales Koordinierungsinstrument, durch Wettbewerb zwischen den Anbietern sowie durch Gewinn- und Nutzenmaximierung gekennzeichnet ist. Dieses Wirtschaftssystem, häufig auch als Marktwirtschaft bezeichnet, ist zuerst in Europa entstanden und hat sich seit dem 16. Jahrhundert auf die außereuropäische Welt ausgedehnt.[4] Nach Max Weber ist dieses System im Wesentlichen ein Produkt der alle Lebensbereiche umfassenden Rationalisierung, deren Ursprung Weber in der Reformation und insbesondere in der Calvinistischen Ethik sieht.[5] Nach Werner Sombart, dem großen Theoretiker des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist aus dieser Ethik im Laufe der Jahrhunderte der kapitalistische Geist als die eigentliche Triebkraft des Kapitalismus entstanden.[6]

Sieht man einmal von den vielen kurzsichtigen und häufig auch durch die Tagespolitik motivierten kurzlebigen Diskussionen ab, dann haben sich bis heute zahlreiche unterschiedliche Kapitalismustheorien entwickelt, die sich grundsätzlich zwischen zwei Extrempositionen bewegen. Die in der westlichen Welt unter Ökonomen mehrheitlich akzeptierte Konzeption geht davon aus, dass die kapitalistische Produktion, sowohl national wie auch global, langfristig zu mehr Wohlstand führt. Getrieben durch Gewinn- und Nutzenmaximierung der Akteure würden Markt und Wettbewerb nicht nur zu einem optimalen Ausgleich der individuellen Interessen führen, sondern auch zu anhaltendem Wachstum und damit zu mehr Wohlstand für alle. Krisen seien vorübergehende Erscheinungen, die im Wesentlichen durch staatliche Eingriffe und außerökonomische Ereignisse hervorgerufen würden. Bei einem gut funktionierenden Markt würde aber, so die Argumentation, das Wirtschafssystem über kurz oder lang zu einem Gleichgewicht zurückfinden. Diese Konzeption findet ihren Ursprung in den Lehren der englischen Klassiker der Politischen Ökonomie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Sie wurde Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in der Neoklassik fortgeführt und im Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts weiter ausgebaut und vertieft.

Die andere, dazu konträre Position, betont die inneren Widersprüche des Systems, die Ungleichgewichtigkeit der kapitalistischen Produktion, sei es nun zwischen Sektoren, Branchen oder auch, im globalen Kontext, zwischen den Volkswirtschaften. Die Notwendigkeit der fortgesetzten Kapitalakkumulation, die wiederum aus der Gewinnmaximierung resultiere, würde nicht nur zu Überproduktion und temporären Krisen führen, sondern auch zu langfristigen strukturellen Ungleichgewichten zwischen Produktion und Konsumtion sowie zwischen Arbeit und Kapital. Zwangsläufige Folgen seien Überproduktion, Arbeitslosigkeit und ein Zwang zur globalen Expansion der kapitalistischen Produktionsweise. In seiner extremsten Marx’schen Variante, die werttheoretisch auf David Ricardo zurückgeht, wird nach dieser Konzeption das System des Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen scheitern. In seiner gemäßigten, durch die Keynes’sche Wirtschaftslehre geprägten Variante geht es um strukturelle Ungleichgewichte zwischen Produktions- und Konsummöglichkeiten, die der Staat durch das sogenannte „deficite spending“ ausgleichen müsse.

Zwischen diesen beiden Extrempositionen liegen zahlreiche vermittelnde Konzepte. Das wohl bedeutendste ist das, wonach sich die Entwicklung des Kapitalismus als Abfolge von langfristigen Expansions- und Kontraktionsphasen manifestiert, das in seinem Kern, wie bereits erwähnt, auf Kondratieff zurückgeht. Die Rezeption und Weiterentwicklung dieses Konzepts ist eng mit der jeweiligen realwirtschaftlichen Entwicklung verbunden. Seine Entstehung fällt in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der die kurzfristige Prosperität der „Goldenen Zwanziger Jahre“ von struktureller Massenarbeitslosigkeit, Überproduktion und zahlreichen krisenhaften Erscheinungen überlagert war. Nach dem II. Weltkrieg dominierte zunächst der Glaube an grenzenloses Wachstum und dessen Steuerbarkeit mit Hilfe der keynesianisch fundierten Globalsteuerung. Konjunkturschwankungen galten als überwunden und Kondratieff-Zyklen als ein Relikt der Vergangenheit. Nachlassendes Wirtschaftswachstum und zunehmende Arbeitslosigkeit haben spätestens seit dem ersten Ölpreisschock im Jahre 1973 die Ökonomen eines Besseren belehrt. Nicht nur der Konjunkturzyklus war zurückgekehrt, sondern auch die Einsicht, dass in der Entwicklung des Kapitalismus Phasen der langfristigen Prosperität offensichtlich immer noch von Stagnation und Depression abgelöst werden. Das Interesse an den Kondratieff-Zyklen war auf breiter Front zurückgekehrt. Die Arbeiten von Kondratieff hätten aber trotz allem nie eine solche Beachtung gefunden, wenn sie nicht durch den österreichischen Nationalökonomen Joseph A. Schumpeter in seine Entwicklungstheorie integriert worden wären, in der Unternehmer und Innovationen eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Kapitalismus eingeräumt wird.[7]

Worum geht es dabei? Ausgangspunkt von Schumpeters Überlegungen ist die Feststellung, dass eine Wirtschaft ohne das Neue, Schumpeter nennt es Innovation, zwangsläufig in einen stationären Zustand übergehen muss, in dem es keine Veränderung, keine Entwicklung und kein Wachstum mehr gibt, sondern nur Routine in einem stationären Kreislauf. Wesentliches Kennzeichen des Kapitalismus ist aber ein beständiger Wandel des Bestehenden. In seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung stellt Schumpeter fest, dass die damals in Österreich dominierende Neoklassik diesen Wandel theoretisch nicht erklären kann. Dieses Defizit versucht er zu beheben, indem er den dynamischen Unternehmer als jenen (idealtypischen) Akteur des Kapitalismus kreiert, der Neues erkennt und im Produktionsprozess, häufig gegen Widerstände aller Art, konsequent durchsetzt. Schumpeter spricht in diesem Zusammenhang von Innovationen. In Folge dieser Innovationen entstehen neue Konsumgüter, neue Produktionsanlagen und -verfahren, neue Absatzmärkte, neue Finanzierungsinstrumente usw. Der dynamische Unternehmer schafft aber nicht nur Neues, er verdrängt und zerstört auch Altes. Schumpeter hat dafür den Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ geprägt, wobei jede Neuerung aber selbst wieder diesem Prozess der schöpferischen Zerstörung unterliegt.

Schumpeter geht bei seiner Erklärung sogar soweit, dass er den Kapitalismus mit der Existenz dieses dynamischen Unternehmers schicksalsmächtig verbindet, indem er behauptet, das Verschwinden dieses Unternehmertypus würde auch zum Untergang des Kapitalismus führen. In seinem Spätwerk[8] hat Schumpeter jedoch erkannt, dass in modernen Volkswirtschaften die Funktion des dynamischen Unternehmers mehr und mehr von Großunternehmen wahrgenommen wird, in denen immense F&E Ausgaben planmäßig und systematisch getätigt werden, wobei diese ähnlich positive Effekte für die Wirtschaft haben, wie der dynamische Unternehmer. Die New Economy, die in den 1990er Jahren ihren (kurzen) Siegeszug antrat, hat jedoch eindrucksvoll demonstriert, dass auch in modernen Volkswirtschaften der Schumpeter’sche Unternehmer noch eine beträchtliche wohlfahrtsfördernde und strukturverändernde Wirkung haben kann.

Da bei Schumpeter die Entstehung des Neuen wesentlich an die Spontaneität und den Einfallsreichtum des Unternehmers gebunden ist, ist bei ihm die Entstehung von Innovationen einer generalisierenden Erklärung weitgehend entzogen. Anders ist es mit den Folgen einer Innovation, die sich mit dem Standardinstrumentarium der Ökonomik viel leichter beschreiben lassen. So wird argumentiert, dass durch die Realisierung einer Innovation dem Innovator zunächst Pioniergewinne winken. Diese locken Konkurrenten auf den Plan, die das Neue imitieren, verbessern und weiter entwickeln. Der Konkurrenzmechanismus sorgt auch dafür, dass das Produkt effizienter und billiger hergestellt werden kann, was häufig mit Arbeitsfreisetzungen verbunden ist. So verschwinden langsam die Extraprofite, das Neue verwandelt sich in Routine, in deren Folge sich wieder ein stationärer Kreislauf einstellt.

Damit unterliegt jede Innovation, und damit jedes Produkt, jede Branche, jede Technologie einer Art Lebenszyklus, der verschiedene Phasen durchläuft, die als Auf- und Abschwung, als Kontraktion und Expansion wahrgenommen werden. Schumpeter hat für diese Dynamik den Begriff „Konjunkturzyklus“ verwendet, unabhängig von der Dauer der jeweiligen Phasen.[9] In der Expansion steigen Produktion, Beschäftigung und Gewinne. Im Abschwung gehen Produktion und Gewinne zurück, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Firmenzusammenbrüche mehren sich. In der Endphase eines Lebenszyklus sind Konsumwünsche gesättigt, Absatz- und Profitmöglichkeiten weitgehend erschöpft. Kontraktionsphasen werden erst dann überwunden, wenn neue Innovationen entstehen, wodurch der Prozess von Neuem beginnt.

Nun ist die Frage berechtigt, weshalb es durch Innovationen, die wir ja tagtäglich in unterschiedlichster Form und Intensität wahrnehmen, zu gesamtwirtschaftlichen Expansions- und Kontraktionsphasen kommen sollte und weshalb sich die Wirkung dieser zahllosen Innovationen gesamtwirtschaftlich nicht irgendwie ausgleichen sollte. Hier hat Schumpeter betont, dass es in ihrer Bedeutung eben ganz unterschiedliche Innovationen gibt. Jene Innovationen, denen eine gesamtwirtschaftliche Bedeutung zukommt, werden in Anlehnung an Schumpeter als Basisinnovationen bezeichnet, mit denen völlig neue Schlüsseltechnologien bzw. Innovationssysteme verbunden sind. Die moderne, neoklassisch geprägte Wachstumstheorie diskutiert dieses Phänomen unter dem Begriff der „General Purpose Technologies“. Diese Innovationssysteme sind es, denen für die langfristige Dynamik des Kapitalismus eine herausragende Bedeutung zukommt. Sie generieren nicht nur völlig neue Produkte und erfordern völlig neue Produktionsanlagen, sie sind grundsätzlich auch mit einem großen Nachfragepotenzial und einem tiefgreifenden Strukturwandel verbunden. In diesem Sinne lässt sich der Prozess der Industrialisierung als Abfolge solcher Basistechnologien interpretieren, wobei jede von ihnen nicht nur einem eigenen Lebenszyklus folgt, sondern auch selbst wieder der schöpferischen Zerstörung unterliegt. Dabei gilt es zu beachten, dass nicht nur die Entwicklungsphasen eines Lebenszyklus unterschiedlich lang sein können, auch die Dauer eines solchen Lebenszyklus kann beträchtlich variieren.

Abbildung 2 vermittelt ein stilisiertes Bild der zeitlichen Entstehung und Ausformung von Lebenszyklen wichtiger Basisinnovationen. Danach wäre die Entwicklung des Kapitalismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch insgesamt sieben Schlüsseltechnologien geprägt worden, die sich in spezifischen Leitsektoren ausformen und dabei die Intensität des wirtschaftlichen Wachstums sowie des Strukturwandels bestimmen. In der frühen Phase waren es Dampfmaschinen und die Textilindustrie, gefolgt von der Schwerindustrie, der Eisenbahn und dem Transportwesen. Am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Elektrotechnik und chemische Industrie als neue Leitsektoren, gefolgt von der Petrochemie und der Automobilindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der jüngeren Vergangenheit kommt der Automation sowie den Kommunikations- und Informationstechnologien eine Schlüsselrolle zu. Für die Zukunft erhofft man sich unter anderem von der Umwelt- und Nanotechnologie sowie von den Lebenswissenschaften eine positive Wirkung auf wirtschaftliches Wachstum. Obgleich die Abbildung, wie gesagt, nur ein stilisiertes Bild Langer Wellen vermittelt, zeigt sie doch wichtige Strukturmerkmale der kapitalistischen Entwicklung im Sinne von Kondratieff und Schumpeter. Leitsektoren entstehen, bilden sich aus und erfahren einen Niedergang. Diese Lebenszyklen und ihre einzelnen Phasen sind nicht nur von unterschiedlicher Länge, sie können sich auch überlagern und damit in ihrer gesamtwirtschaftlichen Wirkung potenzieren. Denkbar sind natürlich auch Entwicklungsphasen die mehrheitlich von „absterbenden“ Leitsektoren geprägt sind. Ob die hier stilisiert dargestellten Leitsektoren in der bisherigen Entwicklung auch tatsächlich eine solche Ausformung erfahren haben, und ob es sich dabei um alle wesentlichen Leitsektoren handelt, ist freilich umstritten und Gegenstand intensiver Forschungen.

Abbildung 2[10]

Es ist heute weitgehend unstrittig, dass solche Innovationssysteme für die Entwicklung des Kapitalismus eine zentrale Rolle spielen. Strittig ist dagegen, ob es sich dabei um eine Zwangsläufigkeit in dem Sinne handelt, dass auf jede Expansion (Kontraktion) wieder eine Kontraktion (Expansion) folgt. Was diese Zwangsläufigkeit betrifft, so wurde in der Nachfolge von Schumpeter betont, dass die Bereitschaft von Unternehmen, Risiken einzugehen, besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten, also in Kontraktionsphasen gegeben seien, da die Profitchancen vorhandener Produkte weitgehend erschöpft seien. Danach würden in langfristigen Kontraktionsphasen die Grundlagen für eine neue Expansion geschaffen. Diese These ist umstritten und letztendlich historisch wohl auch nicht eindeutig zu belegen. Zwangsläufig sind daher wohl nur die Kontraktionsphasen, die sich im Lebenszyklus von Innovationen einstellen. Strittig ist auch, ob die Abfolge von Expansion und Kontraktion eine zeitliche Regelmäßigkeit von 30 bis 60 Jahren aufweist. Man wird feststellen müssen, dass die behauptete Regelmäßigkeit bestenfalls historischer Beobachtung entspringt, keinesfalls aber einer überzeugenden, in sich schlüssigen Theorie. Die historische Innovationsforschung hat gezeigt, dass es in der bisherigen Entwicklung des Kapitalismus solche Cluster von Innovationen, die sich bestimmten Schlüsseltechnologien zuordnen lassen, zwar tatsächlich gab, dass diese Cluster aber zeitlich nicht starr aufeinander folgen, in ihrer Dauer keine feststellbare Regelmäßigkeit aufweisen, zudem von unterschiedlicher Intensität sind und sich darüber hinaus auch zeitweise überlagern.

So kann man abschließend feststellen, dass sich die bisherige Entwicklung des Kapitalismus, der in Europa seinen Ausgang nahm, im Spannungsfeld von Expansion und Kontraktion vollzogen hat, wobei bislang die Expansionstendenzen überwogen haben und die kapitalistisch geprägten Volkswirtschaften auf ein immer höheres Wohlstandsniveau geführt haben. Die Triebkräfte waren Innovationen, verbunden mit Unternehmergeist, Neugier, Wagemut, aber auch Macht- und Eroberungsdrang. Die Expansionsphasen haben den Staaten des alten Europa und seinen direkten Abkömmlingen nicht nur mehr Wohlstand und Freiheit gebracht, sondern auch zu einem immer größeren Gegensatz von Armut und Reichtum in der Welt geführt. Die Frage nach Gleichgewicht und Ungleichgewicht stellt sich damit in einer neuen, nämlichen globalen Dimension. Die Zukunft des Kapitalismus wird deshalb nicht nur davon abhängen, ob es gelingt, die zwangsläufig angelegten Kontraktionsphasen wieder und wieder zu überwinden, sondern auch davon, ob es gelingt, den Zustand des globalen Ungleichgewichts zu beseitigen. Sollte dies langfristig nicht gelingen, dann besteht die Gefahr, dass auch der Kapitalismus dem Prozess der schöpferischen Zerstörung zum Opfer fallen wird. Darüber, wie das Nachfolgesystem aussehen könnte, lässt sich bestenfalls spekulieren, das „Ende der Geschichte“ wird mit ihm sicherlich nicht verbunden sein.



[1] Kondratieff, Nikolai D., Die langen Wellen der Konjunktur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 56 (1926), S. 573-609. Vgl. auch Ders., Die Preisdynamik der industriellen und landwirtschaftlichen Waren, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 60 (1928), S. 1-85. Die von Kondratieff verwendeten Reihen finden sich auch in der GESIS-Online Datenbank HISTAT ( (21.04.2010)).

[2] Immer noch grundlegend Braudel, Fernand, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, 3 Bde., München 1986.

[3] Vgl. z.B. Olson, Mancur, The Rise and Decline of Nations. New Haven 1982.

[4] Hierzu Hilger, Marie-Elisabeth, Art.: Kapital, Kapitalist, Kapitalismus. In: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Studienausgabe, Bd. 3, Stuttgart, S. 399-454. Quantitative Dimensionen dieses Prozesses finden sich in Metz, Rainer, Säkulare Trends der deutschen Wirtschaft, in: North, Michael (Hg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, 2. Aufl. München 2005, S. 427-500.

[5] Zum ersten Mal in Weber, Max, Die Protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 20/21 (1904/1905), S. 1-54 und S. 1-110.

[6] Umfassend dargestellt in Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus, 3 Bde., München 1902-1927. Vgl. dazu auch Takebayashi, Shiro, Die Entstehung der Kapitalismustheorie in der Gründungsphase der deutschen Soziologie. Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie Werner Sombarts und Max Webers, Berlin 2003.

[7] Schumpeter, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Leipzig 1912.

[8] Ders., Capitalism, Socialism and Democracy, New York 1942.

[9] Ders., Business Cycles. A Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process, New York 1939.

[10] Quelle: (21. 04.2010).



Literaturhinweise:

  • Barnett, Vincent, Kondratiev and the Dynamics of Economic Development: Long Cycles and Industrial Growth in Historical Context, London 1995.
  • Devezas, Tessaleno C. (Hg.), Kondratieff Waves, Warfare and World Security. Proceedings of a NATO Advanced Research Workshop, Lissabon 2005.
  • Hanusch, Horst; Pyka, Andreas (Hgg.), Elgar Companion to Neo-Schumpeterian Economics, Cheltenham 2007.
  • Heertje, Arnold, Schumpeter on the Economics of Innovation and the Development of Capitalism, Cheltenham 2006.
  • Makaševa, Natal’ja A.; Samuels, Warren J.; Barnett, Vincent (Hgg.), The Works of Nikolaj D. Kondratiev, 4 Bde., London 1998.

Für das Themenportal verfasst von

Rainer Metz

( 2010 )
Zitation
Rainer Metz, Nikolaj Kondratieff, die Langen Wellen der Konjunktur und die Dynamik des Kapitalismus, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2010, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1521>.
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